Reisetagebuch von Christian Kaiser

Monat: Mai 2017 (Seite 1 von 3)

在龙的头 – Im Kopf des Drachen

Seit knapp zwei Wochen sind wir nun in Shanghai. Nach Buenos Aires, Sydney und Seoul ist das die vierte Stadt, wo wir eine längere Zeit bleiben. Und ich muss gleich zu Beginn zugeben: Shanghai und ich, wir beide brauchten eine Weile, um uns aneinander zu gewöhnen. Die Stadt ist riesig und lärmig, vieles scheint auf den ersten Blick chaotisch und unverständlich. An jeder Ecke prallt postmodern auf traditionell, steht ultra-cooles neben schäbigem. Der Kapitalismus hat zwar das Land überrannt, aber noch nicht alle Traditionen beseitigt: Da fährt bimmelnd der Altkartonsammler mit seinem rostigen Dreirad vor dem neusten Gucci-Prada-Shopping-Tempel vorbei, dort steht zwischen zwei Alleebäumen ein Tesla an der Strasse parkiert, darüber hängt nasse Wäsche zum Trocknen…

In den letzten Tagen habe ich einige Anläufe genommen, um meine Wahrnehmung von Shanghai (bzw. von China und den Chinesen allgemein) in die richtigen Worte zu fassen. Je nach momentaner Befindlichkeit wäre der Blog-Bericht recht unterschiedlich rausgekommen. Auch jetzt fällt es mir noch schwer, meine Erlebnisse zu beurteilen. Tatsache ist, dass dieses Land in den letzten 40 Jahren einen enormen Modernisierungsschub erfahren hat, der zwar den meisten Chinesen mehr Lebensqualität und manchen etwas Wohlstand gebracht hat, der das Land aber auch in einem nie dagewesenen Mass verändert hat. So eindrücklich dieser Wandel ist, an manchen Dingen zeigt sich aber auch, dass (nach unserem westlichen Verständnis) noch nicht alles reibungslos funktioniert. Dazu zwei augenzwinkernde Beispiele.

Am Bund

Beispiel 1: Metro Shanghai

Noch 1992 fuhr in Shanghai keine U-Bahn, heute hat die Stadt das zweitgrösste Metro-Netz der Welt. In einem Affenzahn wurde hier eine moderne U-Bahn gebaut und auch heute noch wird was Netz laufend erweitert. Jede Station hat eine grosszügige Halle und ist über mehrere Zugänge erreichbar.

Doch offenbar waren später neue Sicherheitsmassnahmen angeordnet worden, denn heute steht in jeder Station ein Gepackscanner und die ganze Halle ist mit Absperrungen verstellt, damit alle Leute an der Security vorbei müssen. Soweit, so ärgerlich. Nun ist es aber so, dass sich die Leute einen Dreck um die Sicherheitskontrollen kümmern! Kaum jemand legt seinen Rucksack oder seine Tasche aufs Band, und auch wir haben schon am dritten Tag begonnen, achtlos an den geflissen winkenden Kontrolleuren vorbeizugehen. Offenbar sind die armen Kerle nicht mit den nötigen Vollmachten ausgestattet, um ihre Kontrolle auch wirklich durchzusetzen. Die ganzen Stationen sind also für nichts verstellt, aber hunderttausende Personen machen deswegen täglich sinnlose Umwege, müssen Gedränge und Wartezeiten erdulden…

Ein Hochhaus als baumbewachsener Fels? Wieso auch nicht…

Beispiel 2: Geld wechseln

Wer in China etwas bezahlen muss, der macht das via Händy. Und zwar per WeChat, Alipay, Samsung Pay, Apple Pay oder mit einer der anderen MobilePay-Lösung, deren chinesischen Namen ich noch gar nicht entziffern konnte. Das ist toll, wenn man bedenkt, dass gleichzeitig in der Schweiz die Banken noch immer versuchen, Apple Pay zu verhindern, währenddem sie bei Twint an der Logo-Farbe rumwerkeln.

Da in China aber vielerorts nur lokale Kreditkarten akzeptiert werden, sind wir Touristen noch ganz altmodisch mit Bargeld unterwegs, und vor ein paar Tagen musste ich wieder mal welches wechseln. Also ging ich mit meinen 200 US-Dollar zur ICBC, Chinas grösster Bank. Nach einem ältere Ehepaar mit Bankbüechli (das gibt’s hier auch noch!) war ich an der Reihe. Und jetzt wurde es schwierig. Nicht, weil ich kein Chinesisch konnte, sondern weil die Schalterbeamtin am Computer den Ländercode für die Schweiz eingeben musste und weder «CH», «CHE» oder «SWI» akzeptiert wurden (auch ein verzweifeltes «CHF» half nicht). Schon nach kurzer Zeit waren bis zu fünf Bankbeamte in die Problemlösung involviert und tatsächlich knackte einer den geheimnisvollen Code: «SUI»! Als nächstes wurde meine Shanghaier Adresse und meine Telefonnummer benötigt. Hatte ich natürlich alles, aber oha, die Telefonnummer müsse von einem chinesischen Anschluss sein. Ich sagte, dass ich auf meiner Schweizer Nummer bestens erreichbar sei, doch das genügte nicht. Es ginge ja nicht darum, mich zu erreichen, erklärte mir eine nette Übersetzerin, worauf ich meinte, wir könnten doch einfach ihre Nummer angeben. Dieser Vorschlag war offenbar so ungehörig, dass nun an allen Schaltern die Computer abstürzten.

Die wartende Menge im Schalterraum war inzwischen auf eine beträchtliche Grösse angestiegen und entsprechend stieg die Nervosität bei den Bänklern. Und wer schon mal auf einer Bank gearbeitet hat, weiss wie lange es dauert, bis so ein Computer nach einem Neustart wieder einsatzbereit ist. Einzelne Beamte vertrieben sich die Zeit mit dem Zählen von Banknoten: Die Chinesen zählen Geld immer einhändig, das sieht ein wenig aus wie bei Michel Gammenthaler, wenn er einen Kartentrick zeigt. Mir aber ging langsam die Geduld aus und ich tat meine Absicht kund, das ganze Unterfangen abzubrechen. Einfach davonlaufen konnte ich ja nicht, weil mein Pass und die 200 Bucks noch auf der anderen Seite der dicken Glasscheibe lagen. Offenbar hatte ich damit aber die chinesische Ehre angestachelt, denn kaum war der Computer wieder aufnahmefähig, ging es plötzlich schnell: Name, Passnummer, «SUI», chinesische Adresse etc. wurden nochmals eingetippt, Noten wurden abgezählt, Belege wurden ausgedruckt. Nach über einer Stunde hatte ich meine Renminbi erhalten. Keine Ahnung, wessen Telefonnummer letztendlich herhalten musste…

中国了解长江 – China verstehen auf dem Yangtse

Nach der Drei-Schluchten-Talsperre fuhren wir mit unserem Kreuzfahrtschiff noch zwei Tage den Yangtse hoch, das heisst, eigentlich fuhren wir durch den mehr als 600km langen Stausee, der durch den neuen Damm entstanden war. Auf einem Bootsausflug in einen Seitenarm zeigten uns Einheimische, wie sie früher als Bootszieher gearbeitet hatten: Als der Fluss noch nicht gestaut war, gab es Stellen mit solch starken Stromschnellen, dass Schiffe aus eigener Kraft nicht mehr hochkamen. Also mussten sie von unzähligen armen Kerlen an Seilen flussaufwärts gezogen werden. Diese übten ihren kräftezehrenden Job in der Regel nackt aus, um dem Seil möglichst wenig Scheuermöglichkeiten zu bieten. Heute sind sie angekleidet und ziehen Touristenboote. Und erreichen das Pensionsalter.

Mit dem Ruderboot in einem Seitenarm des Yangtse

Am nächsten Tag machten wir einen Landausflug nach Fengdu, die auch «Stadt der Geister» genannt wird, weil hier viele Tempel stehen, die dazu dienen, mit den Geistern der Verstorbenen Kontakt aufzunehmen. In Fengdu gibt es eine Strasse, wo Zahnärzte und andere Mediziner auf dem Trottoir Zähne ziehen und «Bobos» heilen. Was uns Westlern unvorstellbar rückständig scheint, ist hier aber ein grosser Fortschritt: noch vor zehn, zwanzig Jahren genoss die Landbevölkerung in dieser Region nicht mal diesen einfachen Grad an medizinischer Versorgung.

Frischmarkt in Fengdu

In Fengdu besuchten wir einen Markt und einen Kindergarten. Bei letzterem hielten wir uns allerdings zurück, da wir es moralisch doch ein wenig fragwürdig fanden, wenn eine Horde westlicher Pensionäre mit «Jöö»-Geschrei auf eine Gruppe Vierjährige losgeht und ungefragt Fotos von den herzigen Chineslis macht. Ein Kindergarten ist ja schliesslich kein Zoo, selbst wenn es sich um eine Vorzeige-Einrichtung handelt. Als die Reiseleiterin erklärte, dass dies ein «privater» Kindergarten sei, löste das in der Reisegruppe umgehend die Frage aus, ob denn das kommunistische China nicht allen Kindern die selbe Grundausbildung zur Verfügung stelle. In ihrer ausweichenden Antwort faselte die Reiseleiterin etwas von unterschiedlichen Klassengrössen. Dieses nicht-wirklich-Beantworten von (system)kritischen Fragen hatten wir auch schon bei anderen Reiseleitern beobachtet: Entweder waren sie in ihrer Ausbildung darauf trainiert worden, oder sie trauten sich nicht, offen Stellung zu beziehen.

Der Metzger verkauft direkt an der Strasse, natürlich auch Sauschnörrli und Hühnerfüsse

Die Marktgasse ist auch ein Wohnzimmer: Mahjongg-Spieler

In Fengdu sind die Frauen in der Überzahl, denn die Männer verdingen sich als Wanderarbeiter an der Ostküste

Zurück auf dem Schiff hatten wir dann genügend Zeit, um all unsere Eindrücke etwas einzuordnen. Aber das Land hat so viele verschiedene Facetten, dass es mit unserer «westlichen Brille» schlicht unmöglich scheint, alles korrekt zu interpretieren oder sogar zu verstehen.

In der Wu-Schlucht scheinen die Schiffe ganz klein


China hatte im 19. und 20. Jahrhundert seine grösste Krise erlebt, welche schliesslich zum Ende des Kaiserreichs geführt hatte. Nebst massiven Aufständen im Land selber war es ständig vom Ausland angegriffen worden: China hatte die beiden Opium-Kriege gegen Grossbritannien verloren, sowie die beiden sino-japanischen Kriege gegen Japan und den Boxeraufstand gegen eine Gruppe westlicher Staaten. Weiter gab es auch in den beiden Weltkriegen eine grosse Opferzahl zu beklagen. So gesehen war Mao Zedong nach langer Zeit der erste Führer, der den Chinesen eine gewisse Unabhängigkeit vom Ausland brachte. Zudem waren seine Pläne in den ersten Jahren seiner Herrschaft tatsächlich erfolgreich. Nachdem sich das Land 1978 nach aussen geöffnet hatte, geht es heute vielen, wenn nicht sogar allen Chinesen viel besser als früher. Genau deshalb verehren auch heute noch viele Chinesen ihren «Chairman Mao» und sehen in der Kommunistischen Partei eine «gute» Landesführung.

Besuch auf einem umgesiedelten Bauernhof

Natürlich war das jetzt eine extrem verkürzte Darstellung der chinesischen Geschichte, vor allem machte ich einen «grossen Sprung» über 20 unschöne Jahre. Doch weil im damals sehr ländlich geprägten China die Informationsorgane staatlich kontrolliert und beeinflusst wurden, war das wahre Ausmass vom «Grossen Sprung nach vorn» und von der Kulturrevolution wohl tatsächlich kaum breiten Kreisen bekannt. Auch heute noch bestimmt der Staat, welche Informationen er seinen Bürgern zukommen lässt: Vom ersten Schulbuch über Zeitung und Fernsehen bis hin zum Internet wird dem Volk eine gefilterte und korrigierte Welt vermittelt. Das heisst jetzt nicht, dass die Chinesen Ungerechtigkeiten nicht bemerken würden, doch scheint der Staat wirklich jeden Protest im Keim zu unterdrücken, und aus Angst vor Repressionen arrangieren sich halt viele, um nicht aufzufallen oder anzuecken.

Frühmorgens in Chongqing, an der Skyline wird noch gearbeitet

Das Ausmass der staatlichen Einmischung (inkl. Justizsystem) brachte einer unserer kritischen Gesprächspartner brilliant auf den Punkt:

In China ist es, wie wenn Du Fussball spielst, und die gegnerische Mannschaft ist gleichzeitig auch der Schiedsrichter. Wie willst Du da je ein Spiel gewinnen?

該死的河 – Der verdammte Fluss

In Yichang begann unsere Flusskreuzfahrt auf dem Jangtse. Die nächsten drei Tage würden wir auf Chinas grösstem Fluss rund 600km aufwärts fahren und dabei die berühmten Schluchten Xiling, Wu und Qutang durchqueren. Jene drei Schluchten, die dem grössten Ingenieurbauwerk Chinas den Namen gegeben hatten. Die Talsperre liegt nur wenige Kilometer flussaufwärts von Yichang und schon am Mittag hatte unser Schiff hier die Warteposition erreicht. Wir Passagiere gingen an Land, um die Staumauer und die umliegenden Anlagen zu besichtigen.

Der lokale Reiseleiter begrüsste uns mit einem routinierten: «I’m your dam guide», dann fuhren wir mit dem Bus zum Three-Gorges-Garden (früher der Standort einer Betonmischanlage), schauten die schönen Blumenbeete an, die alle paar Wochen neu bepflanzt würden, bestaunten die riesige Staumauer, der dieser Gegend so viel Gutes gebracht habe (und immer noch bringe), guckten Baumaschinen und Transistoren an, mit deren Verkauf die westlichen Firmen hier ein so gutes Geschäft mit den Chinesen gemacht hätten und so weiter. Kurzum: Es wurde uns eine schöne, heile Welt präsentiert.

Unser Tourguide macht den Job seit 19 Jahren, also seit er sein Heimatdorf verlassen musste. Auf der Karte zeigte er uns, wo es gelegen hatte, denn heute ist es überflutet, genauso wie die Felder, wo sein Vater bis zur Umsiedelung Orangen und Mandarinen angebaut hatte. Aber, erzählte er uns strahlend, die Dorfbewohner seien alle in eine neu gebaute Stadt bei der Talsperre umgesiedelt worden, hier hätten sie jetzt fliessendes Wasser in der Wohnung und «five star toilets». Der Staat habe sogar dafür gesorgt, dass die Leute gemeinsam umgesiedelt wurden und so immer noch in gleicher Nachbarschaft leben könnten. Das sei gerade für die Generation seiner Eltern sehr wichtig gewesen, sagte er. Sein Vater hätte jetzt übrigens einen kleinen Laden, wo er (guess what!) Orangen und Mandarinen verkaufe.

Der Guide kannte sich auch mit Zahlen aus: 700 Megawatt Leistung habe eine Turbine, 34 Stück davon bilden das Kraftwerk, welches bei Inbetriebnahme fast 10 Prozent des chinesischen Stromverbrauchs abgedeckt habe. Infolge des gestiegenen Verbrauchs seien es heute nur noch knapp 2 Prozent, aber China werde bis 2020 noch 20 weitere solche Dämme bauen und dann 30 Prozent des Strombedarfs mit Wasserkraft decken. Beim Bau habe es zudem weniger Tote gegeben als beim Bau des Hoover Dam, die Stromproduktion sei höher als beim Assuan-Staudamm, das Wasser falle tiefer als bei den Victoria Falls, die Mauer sei «dicker als», «breiter als» und so weiter. So langsam hatte ich von dieser Propaganda genug. Aber man sah, dass der Mann wirklich glaubte, was er uns erzählte. Logisch, er wiederholt es seit 19 Jahren täglich. 1.3 Millionen Umgesiedelte sind jetzt glückliche Menschen, weil sie vom Staat ein Five-Star-Klo bekommen haben… Aber vielleicht will er auch nichts anderes glauben, weil er die Wahrheit nicht ertragen könnte.

Auf dem Schiff hingegen sprach ein anderer Chinese relativ offen darüber, dass in Wirklichkeit wohl eher gegen 2 Millionen Menschen umgesiedelt worden waren, dass das mit dem Dammbau angestrebte Hauptziel (Schutz vor Überschwemmungen) nicht erreicht worden sei, und dass die Nebenwirkungen des Baus noch nicht absehbar seien. Man wisse aber schon heute, dass das immense Gewicht des neuen Stausees einen Einfluss auf die Plattentektonik habe und damit möglicherweise das verheerende Erdbeben in Sichuan ausgelöst haben könnte. Dieses ereignete sich nämlich 2008 kurz nachdem der Stausee erstmals vollständig aufgefüllt war, in einer Gegend, wo zuvor nur selten Erdbeben aufgetreten waren.

Lässt man die sozialen und politischen Aspekte beiseite, ist die Drei-Schluchten-Talsperre ein sehr imposantes Bauwerk. Von weitem sah es nur deshalb nicht ganz so spektakulär aus, weil man die Grösse von Talsperre und Schleusensystem noch gar nicht richtig einschätzen konnte. Erst als unser Schiff in die erste Schleuse einfuhr, sahen wir, wie gross das alles wirklich war. Jedes der fünf Becken ist 280m lang und der Wasserspiegel wird bei jeder Schleusenstufe um 22m angehoben. So überwanden wir in rund 3 Stunden 110m Höhe.

Beim Bau des «Three Gorges» waren damals rund 8’800 Millionen Kubikmeter Fels und Erde abgetragen worden, und für die Erstellung der Staumauer war der ganze Fluss kurzfristig umgeleitet worden. Die Erstellung der Drei-Schluchten-Talsperre war zweifellos eine ingenieurtechnische Meisterleistung und ein Mammut-Projekt. Wer, wenn nicht die Chinesen hätten so ein Riesen-Bauwerk erstellen können, schliesslich reicht ihre Erfahrung mit solchen Grossprojekten Jahrhunderte zurück (siehe Terrakotta-Armee und Chinesische Mauer)…

秦始皇帝陵博物院 – Kaiser Qings Privatarmee

Es sei schade, klagte unsere Reiseleiterin, dass viele Touristen nur für das Mausoleum von Kaiser Qinshihuang nach Xi’an kämen, dabei habe die ehemalige Kaiserstadt doch noch so viele weitere Sehenswürdigkeiten. Da hatte sie sicher recht, doch auch wir waren wegen nichts anderem hierher gekommen, als wegen der weltbekannten Terrakotta-Armee.

Zusammen mit einer Unzahl anderer Touristen besichtigten wir die drei Grabfelder und hörten interessiert den Ausführungen unserer Reiseleiterin zu. Leider hatte es so viele Leute und die Figuren standen so weit entfernt, dass wir die Mimiken und Details der einzelnen Figuren erst abends im Hotelzimmer begutachten konnten. Zum Glück hatten wir unsere Teleobjektive mit dabei gehabt.

Der Schwiegervater unserer Reiseleiterin stammt aus dem Dorf 临潼区 (Lintong) und war 1974 mit dabei, als eine Gruppe von Bauern beim Graben eines Wasserlochs plötzlich auf den Kopf eines Terrakotta-Soldaten stiessen. Der Rest ist Geschichte: Lintong wurde zum Mekka aller chinesischen und westlichen Archäologen und das kleine Bauerndorf ist heute eine mittelgrosse Touristenstadt und wird schon bald an die U-Bahn von Xi’an angeschlossen.

Natürlich besichtigten wir neben den «Originalen» auch noch eine Töpferei, wo Kopien in allen Grössen angefertigt und verkauft werden. Falls also jemand einen lebensgrossen Terrakotta-Krieger mit seinem eigenen Gesicht kaufen möchte, um damit seinen Garten zu verschönern, dem gebe ich gerne die Adresse weiter. Schliesslich haben auch wir einen Krieger gekauft, aber nur das reisekoffertaugliche 20cm-Modell…

一个国家爆炸 – Ein Land explodiert

China ist riesig und das Land eine einzige Grossbaustelle. Dies wurde uns in den letzten Tagen schonungslos vor Augen geführt, bei jeder Fahrt, die wir durch das Land machten. Inzwischen sind wir in 宜昌 (Yichang) angelangt, die Reise führte uns mit Zug, Flugzeug und Auto hierher.

Monumental: Beijings Westbahnhof

Am Freitag waren wir mit dem Hochgeschwindigkeitszug von Beijing nach Xi’an gefahren, die 1’200km hatten wir in 6 Stunden zurückgelegt. Unser Zug fuhr mit 300km/h und hielt in diversen Städten, von denen wir noch nie gehört hatten. Sechs davon hatten mehr als eine Million Einwohner, Zhengzhou sogar mehr als 6.4 Millionen. Dementsprechend hielten wir an Bahnhöfen mit bis zu 30 Gleisen und modernsten Bahnhofsgebäuden aus Glas und Beton. Die vielen anderen Züge, die wir sahen, waren ebenfalls Hochgeschwindigkeitszüge.

中国铁路高速 oder CRH (China Railway High-speed)

Wir fuhren an ganzen Wäldern von Hochhäusern (mit 30 Stockwerken und mehr) vorbei und an Baustellen, wo solche gleich im Dutzend neu hochgezogen wurden. Oft sahen wir grosse Parzellen in Dreck und Schutt, wo zwischen Baggern und Abrissbirnen noch Reste von gerade zerstörten Dorfhäusern zu erkennen waren. Noch ein Quartier, dass wohl einer Hochhaus-Siedlung Platz machen musste.

Hochhäuser so weit das Auge reicht, und eines schöner als das andere

Mit dem Zug durchquerten wir die Provinzen Hebei, Henan und Shaanxi, alles mausarme Provinzen, die den Firmen grosse Zugeständnisse gemacht hatten, um Arbeitgeber anzulocken. Mit dem Resultat, das hier die dreckigsten Industrien Chinas stehen und die Umwelt enorm belastet ist. Da auch die Energie vorwiegend aus Kohlekraftwerken kommt, lag dichter Smog über dem Land: Der Himmel war von einer milchig gleissenden Masse bedeckt und die Fernsicht war so bescheiden, dass schon die etwas weiter von der Bahnlinie entfernten Hochhäuser im Dunst verschwanden.

«Scotty, gimme that power!»

Zwei Tage später, im Flugzeug von Xi’an nach Wuhan, sahen wir auf eine grosse grüne Ebene hinunter, die noch vorwiegend von kleinen Dörfern besiedelt und von schmalen Wegen durchzogen ist. Doch mitten in der Ebene zieht sich die Schneise einer sich im Bau befindlichen, riesigen, sicher 10-spurigen Schnellstrasse. Noch ist sie nicht durchgehend, doch genau zwischen zwei fertigen Teilstücken liegt ein Dorf. Man konnte sehen, dass keine Umfahrung eingeplant ist. Chinas zielstrebiger Aufstieg in die Moderne hat eben ihren Preis und produziert auch viele Verlierer…

Im Landeanflug sahen wir dann ein riesiges Flughafenterminal, doch an den Fingerdocks standen keine Flugzeuge. Wie wir später erfuhren, ist es ganz neu und wurde noch nicht in Betrieb genommen. Es ist etwa zehnmal grösser als das alte Terminal und wird in den nächsten Jahren sicher noch nicht ausgelastet sein. Aber Wuhan bereitet sich auf die Zukunft vor. Die Stadt hat heute schon 9 Millionen Einwohner, das ist mehr als Paris oder New York, und die steigenden Mobilitätsbedürfnisse wollen befriedigt werden.

架构:复制或导入 – Architektur: kopiert oder importiert

Nach unserem Ausflug auf die Chinesische Mauer tauchten wir am Donnerstag noch einmal in die Megacity Beijing ein. Am Morgen fuhren wir zur U-Bahn-Station 金台夕照 (Jintaixizhao), weil wir das CCTV-Hauptquartier sehen und fotografieren wollten, doch das Gebäude war weitherum durch hohe Zäune abgesperrt und die Gegend war lärmig, schmutzig und fussgängerunfreundlich. Also flüchteten wir schon bald in die 王府井 (Wangfujing Street), Beijings grosse Einkaufsstrasse. Wie immer in fremden Städten musste ich rasch in den Apple Store, auch wenn sie natürlich überall gleich aussehen. Einziger Unterschied: In China haben die Geräte keinen Internetzugang. (Google und Facebook sind sowieso nicht erreichbar.)

«Smile, you’re on CCTV» – Der imposante Hauptsitz von «China Central Television» (bzw. hinter vorgehaltener Hand: «China Communist Television»)

Das neue und das alte China sind auch in der Werbung gleich nebeneinander

Weil es inzwischen sommerlich heiss geworden war (30 Grad im Mai ist auch für Beijing ungewöhnlich warm), fuhren wir in den Park beim Himmelstempel, hier war es angenehm ruhig und schattig. Hunger und Stadtplan trieben uns dann in die 前门 (Quianmen Street), gemäss Reiseführer eine alte Geschäftsstrasse, wo man noch das China der Zwanziger und Dreissiger Jahre vorfinden könne. Sogar die einzige Tramlinie verkehre hier noch. Das ganze entpuppte sich dann aber als ziemliche Touristenfalle, denn das Areal ist ein kompletter Neubau, einfach auf alt gemacht. Die Geschäfte verkaufen alle die selben billigen Souvenirs oder Esswaren, und die Strasse hat etwa den Charme von Neu-Oerlikon.

Qianmen: Chinesische Postkartenidylle mit Häaggen Dazs, KFC und Starbucks

Dann doch lieber wieder neue Architektur, die nicht vorgibt, etwas altes zu kopieren! Also raus zum Olympic Park, zu Wasserwürfel und Vogelnest. Hier trafen wir wieder auf den mittlerweile gewohnten chinesischen Gigantismus: Für die Olympischen Spiele von 2008 hatte China alle Register gezogen: Es waren die teuersten Spiele und Beijing hatte sich für dieses Ereignis aufs extremste modernisiert und herausgeputzt. Mitten durch Beijing führt die «kaiserliche Linie», jene Nord-Südachse, an der sich die Stadtplanung seit Jahrhunderten ausrichtet, und auf der alle wichtigen Gebäude liegen, so auch die Paläste der Verbotenen Stadt. Für die Olympiade war die Achse nach Norden verlängert worden, denn auch der olympische Park sollte exakt auf dieser angelegt werden. Links der breiten Allee kam das Nationale Wassersport-Zentrum (der «Water Cube») zu stehen, rechts davon das Nationalstadion, besser bekannt als «Vogelnest». Letzteres war das ikonische Erkennungsmerkmal der Olympiade und ist es heute von Beijing schlechthin. Und: «Wer hat’s erfunden? Hä?» Klar, die Schweizer Architekten Herzog & de Meuron.

Der olympische «Water Cube» ist heute das chinesische Alpamare (das weltgrösste, selbstverständlich)

Im «Vogelnest» fühlen sich viele verschiedene Tierchen wie zuhause…

Beteiligt war auch der Chinesische Künstler Ai Weiwei, welcher sich bei der Partei mit der kritischen Aussage unbeliebt gemacht hatte, dass sämtliche schönen Gebäude Chinas von ausländischen Architekten entworfen würden, weil das Volk selber aufgrund des politischen Systems dazu nicht in der Lage sei. Im (völlig überdimensionierten) Olymic Park aber plärrt auch heute noch die offizielle Olympia-Musik aus den Lautsprechern, man will das Bild der erfolgreichen Nation so lange wie möglich aufrecht erhalten. Schliesslich hatte China 2008 die meisten Medaillen gewonnen.