Nach der Drei-Schluchten-Talsperre fuhren wir mit unserem Kreuzfahrtschiff noch zwei Tage den Yangtse hoch, das heisst, eigentlich fuhren wir durch den mehr als 600km langen Stausee, der durch den neuen Damm entstanden war. Auf einem Bootsausflug in einen Seitenarm zeigten uns Einheimische, wie sie früher als Bootszieher gearbeitet hatten: Als der Fluss noch nicht gestaut war, gab es Stellen mit solch starken Stromschnellen, dass Schiffe aus eigener Kraft nicht mehr hochkamen. Also mussten sie von unzähligen armen Kerlen an Seilen flussaufwärts gezogen werden. Diese übten ihren kräftezehrenden Job in der Regel nackt aus, um dem Seil möglichst wenig Scheuermöglichkeiten zu bieten. Heute sind sie angekleidet und ziehen Touristenboote. Und erreichen das Pensionsalter.

Mit dem Ruderboot in einem Seitenarm des Yangtse

Am nächsten Tag machten wir einen Landausflug nach Fengdu, die auch «Stadt der Geister» genannt wird, weil hier viele Tempel stehen, die dazu dienen, mit den Geistern der Verstorbenen Kontakt aufzunehmen. In Fengdu gibt es eine Strasse, wo Zahnärzte und andere Mediziner auf dem Trottoir Zähne ziehen und «Bobos» heilen. Was uns Westlern unvorstellbar rückständig scheint, ist hier aber ein grosser Fortschritt: noch vor zehn, zwanzig Jahren genoss die Landbevölkerung in dieser Region nicht mal diesen einfachen Grad an medizinischer Versorgung.

Frischmarkt in Fengdu

In Fengdu besuchten wir einen Markt und einen Kindergarten. Bei letzterem hielten wir uns allerdings zurück, da wir es moralisch doch ein wenig fragwürdig fanden, wenn eine Horde westlicher Pensionäre mit «Jöö»-Geschrei auf eine Gruppe Vierjährige losgeht und ungefragt Fotos von den herzigen Chineslis macht. Ein Kindergarten ist ja schliesslich kein Zoo, selbst wenn es sich um eine Vorzeige-Einrichtung handelt. Als die Reiseleiterin erklärte, dass dies ein «privater» Kindergarten sei, löste das in der Reisegruppe umgehend die Frage aus, ob denn das kommunistische China nicht allen Kindern die selbe Grundausbildung zur Verfügung stelle. In ihrer ausweichenden Antwort faselte die Reiseleiterin etwas von unterschiedlichen Klassengrössen. Dieses nicht-wirklich-Beantworten von (system)kritischen Fragen hatten wir auch schon bei anderen Reiseleitern beobachtet: Entweder waren sie in ihrer Ausbildung darauf trainiert worden, oder sie trauten sich nicht, offen Stellung zu beziehen.

Der Metzger verkauft direkt an der Strasse, natürlich auch Sauschnörrli und Hühnerfüsse

Die Marktgasse ist auch ein Wohnzimmer: Mahjongg-Spieler

In Fengdu sind die Frauen in der Überzahl, denn die Männer verdingen sich als Wanderarbeiter an der Ostküste

Zurück auf dem Schiff hatten wir dann genügend Zeit, um all unsere Eindrücke etwas einzuordnen. Aber das Land hat so viele verschiedene Facetten, dass es mit unserer «westlichen Brille» schlicht unmöglich scheint, alles korrekt zu interpretieren oder sogar zu verstehen.

In der Wu-Schlucht scheinen die Schiffe ganz klein


China hatte im 19. und 20. Jahrhundert seine grösste Krise erlebt, welche schliesslich zum Ende des Kaiserreichs geführt hatte. Nebst massiven Aufständen im Land selber war es ständig vom Ausland angegriffen worden: China hatte die beiden Opium-Kriege gegen Grossbritannien verloren, sowie die beiden sino-japanischen Kriege gegen Japan und den Boxeraufstand gegen eine Gruppe westlicher Staaten. Weiter gab es auch in den beiden Weltkriegen eine grosse Opferzahl zu beklagen. So gesehen war Mao Zedong nach langer Zeit der erste Führer, der den Chinesen eine gewisse Unabhängigkeit vom Ausland brachte. Zudem waren seine Pläne in den ersten Jahren seiner Herrschaft tatsächlich erfolgreich. Nachdem sich das Land 1978 nach aussen geöffnet hatte, geht es heute vielen, wenn nicht sogar allen Chinesen viel besser als früher. Genau deshalb verehren auch heute noch viele Chinesen ihren «Chairman Mao» und sehen in der Kommunistischen Partei eine «gute» Landesführung.

Besuch auf einem umgesiedelten Bauernhof

Natürlich war das jetzt eine extrem verkürzte Darstellung der chinesischen Geschichte, vor allem machte ich einen «grossen Sprung» über 20 unschöne Jahre. Doch weil im damals sehr ländlich geprägten China die Informationsorgane staatlich kontrolliert und beeinflusst wurden, war das wahre Ausmass vom «Grossen Sprung nach vorn» und von der Kulturrevolution wohl tatsächlich kaum breiten Kreisen bekannt. Auch heute noch bestimmt der Staat, welche Informationen er seinen Bürgern zukommen lässt: Vom ersten Schulbuch über Zeitung und Fernsehen bis hin zum Internet wird dem Volk eine gefilterte und korrigierte Welt vermittelt. Das heisst jetzt nicht, dass die Chinesen Ungerechtigkeiten nicht bemerken würden, doch scheint der Staat wirklich jeden Protest im Keim zu unterdrücken, und aus Angst vor Repressionen arrangieren sich halt viele, um nicht aufzufallen oder anzuecken.

Frühmorgens in Chongqing, an der Skyline wird noch gearbeitet

Das Ausmass der staatlichen Einmischung (inkl. Justizsystem) brachte einer unserer kritischen Gesprächspartner brilliant auf den Punkt:

In China ist es, wie wenn Du Fussball spielst, und die gegnerische Mannschaft ist gleichzeitig auch der Schiedsrichter. Wie willst Du da je ein Spiel gewinnen?