Reisetagebuch von Christian Kaiser

在龙的头 – Im Kopf des Drachen

Seit knapp zwei Wochen sind wir nun in Shanghai. Nach Buenos Aires, Sydney und Seoul ist das die vierte Stadt, wo wir eine längere Zeit bleiben. Und ich muss gleich zu Beginn zugeben: Shanghai und ich, wir beide brauchten eine Weile, um uns aneinander zu gewöhnen. Die Stadt ist riesig und lärmig, vieles scheint auf den ersten Blick chaotisch und unverständlich. An jeder Ecke prallt postmodern auf traditionell, steht ultra-cooles neben schäbigem. Der Kapitalismus hat zwar das Land überrannt, aber noch nicht alle Traditionen beseitigt: Da fährt bimmelnd der Altkartonsammler mit seinem rostigen Dreirad vor dem neusten Gucci-Prada-Shopping-Tempel vorbei, dort steht zwischen zwei Alleebäumen ein Tesla an der Strasse parkiert, darüber hängt nasse Wäsche zum Trocknen…

In den letzten Tagen habe ich einige Anläufe genommen, um meine Wahrnehmung von Shanghai (bzw. von China und den Chinesen allgemein) in die richtigen Worte zu fassen. Je nach momentaner Befindlichkeit wäre der Blog-Bericht recht unterschiedlich rausgekommen. Auch jetzt fällt es mir noch schwer, meine Erlebnisse zu beurteilen. Tatsache ist, dass dieses Land in den letzten 40 Jahren einen enormen Modernisierungsschub erfahren hat, der zwar den meisten Chinesen mehr Lebensqualität und manchen etwas Wohlstand gebracht hat, der das Land aber auch in einem nie dagewesenen Mass verändert hat. So eindrücklich dieser Wandel ist, an manchen Dingen zeigt sich aber auch, dass (nach unserem westlichen Verständnis) noch nicht alles reibungslos funktioniert. Dazu zwei augenzwinkernde Beispiele.

Am Bund

Beispiel 1: Metro Shanghai

Noch 1992 fuhr in Shanghai keine U-Bahn, heute hat die Stadt das zweitgrösste Metro-Netz der Welt. In einem Affenzahn wurde hier eine moderne U-Bahn gebaut und auch heute noch wird was Netz laufend erweitert. Jede Station hat eine grosszügige Halle und ist über mehrere Zugänge erreichbar.

Doch offenbar waren später neue Sicherheitsmassnahmen angeordnet worden, denn heute steht in jeder Station ein Gepackscanner und die ganze Halle ist mit Absperrungen verstellt, damit alle Leute an der Security vorbei müssen. Soweit, so ärgerlich. Nun ist es aber so, dass sich die Leute einen Dreck um die Sicherheitskontrollen kümmern! Kaum jemand legt seinen Rucksack oder seine Tasche aufs Band, und auch wir haben schon am dritten Tag begonnen, achtlos an den geflissen winkenden Kontrolleuren vorbeizugehen. Offenbar sind die armen Kerle nicht mit den nötigen Vollmachten ausgestattet, um ihre Kontrolle auch wirklich durchzusetzen. Die ganzen Stationen sind also für nichts verstellt, aber hunderttausende Personen machen deswegen täglich sinnlose Umwege, müssen Gedränge und Wartezeiten erdulden…

Ein Hochhaus als baumbewachsener Fels? Wieso auch nicht…

Beispiel 2: Geld wechseln

Wer in China etwas bezahlen muss, der macht das via Händy. Und zwar per WeChat, Alipay, Samsung Pay, Apple Pay oder mit einer der anderen MobilePay-Lösung, deren chinesischen Namen ich noch gar nicht entziffern konnte. Das ist toll, wenn man bedenkt, dass gleichzeitig in der Schweiz die Banken noch immer versuchen, Apple Pay zu verhindern, währenddem sie bei Twint an der Logo-Farbe rumwerkeln.

Da in China aber vielerorts nur lokale Kreditkarten akzeptiert werden, sind wir Touristen noch ganz altmodisch mit Bargeld unterwegs, und vor ein paar Tagen musste ich wieder mal welches wechseln. Also ging ich mit meinen 200 US-Dollar zur ICBC, Chinas grösster Bank. Nach einem ältere Ehepaar mit Bankbüechli (das gibt’s hier auch noch!) war ich an der Reihe. Und jetzt wurde es schwierig. Nicht, weil ich kein Chinesisch konnte, sondern weil die Schalterbeamtin am Computer den Ländercode für die Schweiz eingeben musste und weder «CH», «CHE» oder «SWI» akzeptiert wurden (auch ein verzweifeltes «CHF» half nicht). Schon nach kurzer Zeit waren bis zu fünf Bankbeamte in die Problemlösung involviert und tatsächlich knackte einer den geheimnisvollen Code: «SUI»! Als nächstes wurde meine Shanghaier Adresse und meine Telefonnummer benötigt. Hatte ich natürlich alles, aber oha, die Telefonnummer müsse von einem chinesischen Anschluss sein. Ich sagte, dass ich auf meiner Schweizer Nummer bestens erreichbar sei, doch das genügte nicht. Es ginge ja nicht darum, mich zu erreichen, erklärte mir eine nette Übersetzerin, worauf ich meinte, wir könnten doch einfach ihre Nummer angeben. Dieser Vorschlag war offenbar so ungehörig, dass nun an allen Schaltern die Computer abstürzten.

Die wartende Menge im Schalterraum war inzwischen auf eine beträchtliche Grösse angestiegen und entsprechend stieg die Nervosität bei den Bänklern. Und wer schon mal auf einer Bank gearbeitet hat, weiss wie lange es dauert, bis so ein Computer nach einem Neustart wieder einsatzbereit ist. Einzelne Beamte vertrieben sich die Zeit mit dem Zählen von Banknoten: Die Chinesen zählen Geld immer einhändig, das sieht ein wenig aus wie bei Michel Gammenthaler, wenn er einen Kartentrick zeigt. Mir aber ging langsam die Geduld aus und ich tat meine Absicht kund, das ganze Unterfangen abzubrechen. Einfach davonlaufen konnte ich ja nicht, weil mein Pass und die 200 Bucks noch auf der anderen Seite der dicken Glasscheibe lagen. Offenbar hatte ich damit aber die chinesische Ehre angestachelt, denn kaum war der Computer wieder aufnahmefähig, ging es plötzlich schnell: Name, Passnummer, «SUI», chinesische Adresse etc. wurden nochmals eingetippt, Noten wurden abgezählt, Belege wurden ausgedruckt. Nach über einer Stunde hatte ich meine Renminbi erhalten. Keine Ahnung, wessen Telefonnummer letztendlich herhalten musste…