Reisetagebuch von Christian Kaiser

Kategorie: Reisen (Seite 2 von 10)

更大,更快,更高 – Grösser, schneller, höher

Letzten Donnerstag schauten wir uns Shanghai von oben an: Mit dem schnellsten Lift der Welt (18m/s) fuhren wir aufs zweithöchste Gebäude der Welt hoch, auf den 632m hohen Shanghai Tower. Wenn auch die Namensgebung nicht sehr fantasievoll ausfiel, so wenigstens die Architektur: Mit seiner geschwungenen, gedrehten Form hebt sich dieser Wolkenkratzer wohltuend von den vielen hässlichen Hochhäusern Shanghais ab. Zudem kann man vom Aussichtsdeck des «Zapfenziehers» auf den 492m hohen «Flaschenöffner» herunterschauen. (Letzteres ist der offizielle Übername vom Shanghai World Finance Center (SWFC), den «Zapfenzieher» habe ich jetzt grad erfunden.)

Die chinesischen Städte sind ja berühmt für ihre schlechte Luftqualität und damit ist oft nicht nur Husten und Kopfweh garantiert, sondern auch eine schlechte Sicht. Shanghai ist da keine Ausnahme, im Gegenteil. Da wir nur an einem mittelmässigen Tag aufs Aussichtsdeck hochgingen, sieht man auf den Fotos nun nicht die ganze Stadt, sondern kann viel mehr sehen, wie die Häuser in einer milchigen Suppe verschwinden. Nicht mal zu unserer Wohnung in Xuhui konnten wir blicken, und die liegt grad mal 6.5km vom Turm entfernt. Aber auch bei dieser Sicht war es eindrücklich genug.

Maglev

Und wenn wir an diesem Tag schon extrem hoch hinaus gingen, dann wollten wir es auch grad noch extrem schnell haben. Also gingen wir Maglev fahren: Maglev steht für Magnetic Levitation, Magnet-Schwebebahn. Von deutschen Firmen wurde hier 2002 der Transrapid Shanghai erstellt, der sich vorerst auf eine 30km lange «Teststrecke» von der Longyang Road bis zum Flughafen Pudong beschränkt. Eigentlich wollte man ein grösseres Netz erstellen, doch dann setzten die Chinesen auf die herkömmlichen Superschnellzüge. Inzwischen ist ein Weiterausbau der defizitären Strecke unwahrscheinlich geworden. Doch eine Fahrt mit der Maglev ist sensationell: Der Zug beschleunigt bis auf eine Höchstgeschwindigkeit von 430km/h. Diese Geschwindigkeit erreicht er aber nur während knapp einer Minute, denn danach muss er schon wieder abbremsen, um nicht am Flughafen übers Ziel hinaus zu schiessen. Für die ganze Strecke benötigt die Bahn gerade mal 7 Minuten.

Wir hatten um 14:10h in Longyang Lu ein Retourticket gekauft und waren eine halbe Stunde später bereits wieder dort. Dazwischen rasten wir auf dem Betontrassee zum Flughafen und zurück. Die Beschleunigung war eindrücklich, ab 200km/h wurde das Fahrgeräusch lauter, ab 350km/h vibrierte es ein wenig. Nachdem das Tachometer 400km/h überschritten hatte, stieg die Zahl immer langsamer an und bei 431km/h verharrte sie dann für eine Weile. Vierhunderteinunddreissig Stundenkilometer! Hueregeil! Auf der parallel zum Trassee liegenden Autobahn schienen die Autos nun alle rückwärts zu fahren und sogar das Flugzeug im Landeanflug schien langsamer vorwärts zu kommen als unser Zug. Bereits fuhren wir nicht mehr mit Höchstgeschwindigkeit, als es plötzlich zweimal knallte: Das war die Druckwelle des Gegenzugs, der in weniger als einer Sekunde an unserem Fenster vorbeischoss. Wir fanden das alles sehr eindrücklich und klebten gebannt am Fenster, doch die Chinesen um uns herum sassen in den Sesseln an ihren Händis und machten ein Gesicht wie die Zürcher am Montagmorgen im Tram.

Expo 2010

Shanghai hatte im Jahr 2010 eine Weltausstellung beheimatet. Wie auch andere Städte nahm Shanghai das zum Anlass, eine Stadtgegend aufzuwerten, und – ebenfalls wie an anderen Orten – fiel das Ergebnis durchzogen aus. Der damalige China Pavillon (architektonisch sehr gelungen, wenn ihr mich fragt) beherbergt heute das Shanghai Art Museum und auch die «Mercedes-Benz Arena» erfüllt noch immer ihren Zweck. Die Power Station of Art ist ebenfalls ziemlich cool, obschon das zum Kunstmuseum umgebaute frühere Elektrizitätswerk etwas gar offensichtlich versucht, die Londoner Tate Modern zu imitieren. Die damalige Hauptachse der Expo ist heute ein halb leerstehendes Einkaufszentrum. An solchen Orten kommt bei mir immer so eine Art Endzeitstimmung auf. Drum herum wird, wie überall in Shanghai, fleissig gebaut. Keine Ahnung, ob in die Häuser dann auch jene 18’000 Bürger einziehen dürfen, die man vor der Expo zwangsumgesiedelt hatte…

民以食为天 – Dem Volk ist das Essen der Himmel

Über die chinesischen Lebensmittel liest man ja so einiges: Zum einen sind die Umweltbedingungen schwierig (verseuchtes Flusswasser, saurer Regen, kontaminierter Boden), zum andern gab es da so einige Skandale (chemisch behandeltes Schweinefleisch, um es wie Rindfleisch aussehen zu lassen, Melamin in der Milch, mit Styropor gestreckte Nudeln etc.). Aber trotzdem: Was die Chinesen aus ihren Lebensmitteln zaubern, ist durchs Band sensationell. Und damit meine ich die hiesige chinesische Küche, nicht jene bei uns zuhause. Wahrscheinlich werden wir in Europa nie mehr in ein Sichuan-Restaurant gehen können, ohne kulinarisch enttäuscht zu werden…

Húnán-Küche im Restaurant Di·Shui·Dong

Weiter sagt man von den Chinesen, dass sie eigentlich alles essen, was vier Beine hat – ausser Tische und Stühle. Und von jedem Tier wird wirklich alles verwertet. Das ist natürlich sehr ökonomisch und deshalb löblich, und trotzdem fehlte uns bisher für Gerichte wie frittierte Entenzungen und gekochte Hühnerfüsse einfach der Mut. Mangels detaillierten Übersetzungen in den Menukarten (bzw. in der Händy-App – Übersetzungen wie «Wir werden den Jangtse kochen, wenn die Ölgruppe» sind einfach nicht sehr hilfreich) können wir aber nicht ausschliessen, dass wir unter der simplen Bezeichnung «beef» oder «pork» trotzdem schon Innereien oder andere Tierteile verspeist haben, die für uns kulinarisches Neuland bedeuteten.

Essen mit Blick auf die East Nanjing Road (Yunnan-Küche)

Für uns Westler ungewohnt ist, dass viele Restaurants nicht auf Strassenlevel liegen, sondern irgendwo in einem Obergeschoss versteckt sind. Das heisst, «versteckt» sind sie ja nur für jene, die die grossen chinesischen Zeichen nicht interpretieren können. Auch Restaurants, die in Shopping Center liegen, haben hier einen viel besseren Ruf als bei uns, so geht man gerne mal Sonntags in die Food Mall bzw. den Food Court zum Essen, manche Einkaufspaläste scheinen gar mehr Restaurants als Läden zu haben. Ein weiteres Handicap für Nicht-Sprachkundige: Restaurants finden, einen Tisch reservieren und anschliessend bezahlen, das macht der moderne Chinese mit einem Gerät, das wir zwar auch ständig in der Hosentasche mit uns herumtragen, aber eben: Apps auf Mandarin, das ist nicht so unser Ding.

Mmmhh, Fleisch für unseren «Hot Pot»

In unserer kleinen Wohnung ist die Küche leider nicht so gut ausgerüstet, neben einer Spaghettipfanne fehlen für uns grundlegende Dinge wie z.B. ein richtiges Brotmesser. Also gehen wir halt auch in Shanghai vorwiegend auswärts essen, was aber angesichts der oben beschriebenen Möglichkeiten und der feinen Küche nicht wirklich ein Problem ist. Zudem muss es ja auch nicht immer Chinesisch sein: Nebst den Spezialitäten aus all den verschiedenen Provinzen haben wir auch schon japanisch, thailändisch, vietnamesisch und türkisch gegessen, einmal auch westlich (also Hamburger) – letzteres ist aber nicht zu empfehlen. Erstaunlich ist die grosse Preisspanne: Man kann hier sehr teuer essen, aber auch sehr billig. Einmal hatten wir für 40 RMB (knapp 6 CHF) wirklich feine Dumplings zum Zmittag. Zum Vergleich: Ein Latte Macchiato im Starbucks kostet 32 RMB (CHF 4.50).

Japanisches Barbecue im Einkaufszentrum

Zum Glück müssen wir auch nicht immer alleine ins Restaurant: Per Zufall hatte ich bei einem Anlass Daniela kennengelernt, die gerade mit ihrem Freund ein halbes Jahr in Shanghai verbringt. Beni war von seinem Dietiker Arbeitgeber in die hiesige Zweigstelle geschickt worden, normalerweise wohnen die beiden auch im Limmattal. Also gingen wir mal zu viert auf einen «Schweizer Abend» in ein feines Yunnan-Restaurant essen. Wir genossen die Gesellschaft und tauschten unsere Erlebnisse aus. Und als dann die chinesische Pensionärengruppe am Tisch hinter uns nach dem x-ten Schnaps immer lauter ihr «Opern-Karaoke» sang, da gingen wir halt noch ein Haus weiter…

Unser Lieblings-Restaurant, das «Yu Xiang Qing» (Sichuan-Küche)

Letzten Sonntag trafen wir uns nochmals mit Leo und Jodie. Diese beiden jungen Chinesen hatten wir vor zwei Monaten auf Fidschi kennengelernt und dabei erfahren, dass sie in Shanghai wohnen. Also blieben wir in Mail-Kontakt und vereinbarten, uns hier mal zu treffen. Und so machten wir es. Obwohl wir uns ja kaum kannten, wurde es eine sehr kurzweilige Begegnung. Wir assen Zmittag im Shopping Center (siehe oben) und anschliessend hatten die beiden etwas ganz Besonderes für uns ausgesucht: Mit dem Taxi fuhren wir in die Villengegend der French Concession, wo uns Leo zielstrebig zu einem Tor führte. Die Gartenmauer wirkte abweisend und war nicht gekennzeichnet, doch wir gingen rein, schlichen durch einen privaten Vorgarten und erreichten dann eine Terrasse, wo wir ins Haus eingelassen wurden. Das Erdgeschoss dieser Villa war in ein schickes Teehaus umfunktioniert worden, welches aber nur via Internet zu finden und zu buchen ist (nochmals: siehe oben). Jedenfalls durften wir ihre Gastfreundschaft den ganzen Nachmittag geniessen und es war äusserst interessant, so einen Einblick ins Leben zweier junger Chinesen zu erhalten.

Ein gemütlicher Nachmittag im Teehaus

Zwei Tage später gingen wir nochmals auf eine Tee-Tour, diesmal auf eine organisierte. An der U-Bahn-Station wurden wir von Erica abgeholt, die uns dann in die «Tianshan Tea City» führte. Übrigens, falls ihr Euch wundert, weshalb Chinesen Leo, Jodie oder Erica heissen: Heissen sie natürlich nicht. Aber viele, vor allem junge Chinesen geben sich selber einen westlichen Namen, damit wir Westler den auch verstehen, aussprechen und uns merken können. Beim anschliessenden Mittagessen half mir Erica dann noch, meinen kompromittierten «WeChat» Account wieder freizubekommen und seither klingelt mein Händy nun schön regelmässig, weil meine chinesischen Freunde halt einfach ultra-kommunikativ sind. 😱👍🏻💁🏻🙈

Carmen kocht 辣子鸡块 («là zi jī kuài»; scharfes Hühnerfleisch)

Heute schliesslich waren wir noch in einem Sichuan-Kochkurs. Zusammen mit drei Japanerinnen und unter kundiger Anleitung von «Mike», unserem chinesischen Koch, frittierten wir Bohnen und Hühnerbeine und mischten im Wok das passende Chilli-Pfeffer-Sösseli zusammen. Nachdem wir ja schon in Seoul einen Kochkurs besucht hatten, war es natürlich lustig, zu vergleichen. Und klar: Der heutige Kurs war einiges chaotischer und lebhafter als jener in Korea. Dort war alles fein säuberlich in Schalen bereitgestellt, hier lag die Einkaufstüte mit den getrockneten Chillis gleich neben der bruzzelnden Pfanne, stand das rohe Fleisch neben dem fertigen Gemüse, und gleich neben all den offenen Lebensmitteln wurde noch abgewaschen. Wahrscheinlich ist es besser, dass wir in den Restaurants jeweils nicht in die Küche reinsehen können. Aber eben, das Ergebnis ist toll, wir haben bis jetzt eigentlich immer gut gegessen: Kochen können die Chinesen wirklich. Kochen und massieren, aber das wäre jetzt wieder eine Geschichte für sich.

E-Mail an Meike

Hallo Meike

Nach all diesen Monaten schreibe ich dir nun endlich mal. Lass mich etwas ausholen: Meine Frau und ich hatten schon längere Zeit darüber diskutiert, für ein paar Jahre im Ausland zu arbeiten. Carmen hätte jederzeit sofort ihre Koffer gepackt, ich war jeweils der Bremser. Zwar reise auch ich gerne, doch ich befürchtete, dass ich auch in London oder Singapur vor allem das Büro und nicht die Stadt sehen würde.

Eines Abends erwähnte Carmen beiläufig ein Buch, von dem ihr eine Arbeitskollegin erzählt hatte. Von einer Frau, die bei Wer-wird-Millionär… (etc., du weisst schon). Eine tolle Idee, dachte ich. «Komm, wir schreiben auf, in welche 12 Städte wir gehen würden!» Es war ein Spiel: Jeder überlegte, schrieb auf und nach fünf Minuten verglichen wir; bei sechs oder sieben Städten stimmten wir überein. Dann kauften und lasen wir Dein E-Book und planten zum Spass unsere imaginäre Weltreise: Welche Stadt in welcher Jahreszeit und wie reisen, ohne fünfmal den Globus zu umrunden.

Irgendwann begriffen wir, dass eine solche «Städtereise» wohl die Lösung für unser Ausland-Dilemma war. Im August 2016 entschieden wir uns, «es» zu tun, im September kündigten wir unsere Jobs und am 10. Dezember flogen wir los. Nicht für ein Jahr, sondern für knapp 7 Monate, und nicht 12 Städte, sondern deren 4. Und zwischen den Städten wollten wir ein wenig herumreisen. Also:

  • 6 Wochen in Buenos Aires stationär, 4 Wochen in Patagonien rumreisen,
  • 5 Wochen in Sydney stationär, 1 Woche in Fidschi rumliegen,
  • 1 Monat in Seoul stationär, 2 Wochen in China rumreisen,
  • 4 Wochen in Shanghai stationär, 2 Wochen in Yunnan rumreisen.

Und mit auf die Reise kam Dein Buch: In jeder Stadt, in der Du auch gewesen warst, lasen wir das entsprechende Kapitel nochmals, diesmal mit einem besonderen Lächeln, weil wir Deine Erlebnisse und Eindrücke nun sehr gut nachvollziehen konnten.

Diese Zeilen schreibe ich Dir aus Shanghai. Unsere Auszeit ist super, wir geniessen jeden Tag. In den letzten Monaten haben wir so viele interessante Leute kennengelernt, schöne Natur bestaunt und Einblick in fremde Kulturen erhalten. In Buenos Aires hatten wir Spanisch gelernt, auf Fidschi Schnorcheln, in Seoul ein wenig Taekwondo und in China noch weniger Mandarin. An diversen Orten gingen wir Wandern, besuchten kulturelle Anlässe, trieben etwas Sport. Und dank Computer und Internet taten wir sogar hin und wieder etwas, das man als Arbeiten bezeichnen könnte.

Leider bleiben uns nur noch etwas mehr als drei Wochen, dann werden wir wieder nach Zürich und damit in unser «normales» Leben zurückfliegen. Aber wir haben «es» gemacht, wir sind gegangen. Und Du als Mitverursacherin warst mit dabei, auch wenn Du das bis jetzt nicht gewusst hast. Deshalb: Vielen Dank für Dein inspirierendes Buch, bist eine prima Reisegefährtin.

Beste Grüsse
Christian

在龙的头 – Im Kopf des Drachen

Seit knapp zwei Wochen sind wir nun in Shanghai. Nach Buenos Aires, Sydney und Seoul ist das die vierte Stadt, wo wir eine längere Zeit bleiben. Und ich muss gleich zu Beginn zugeben: Shanghai und ich, wir beide brauchten eine Weile, um uns aneinander zu gewöhnen. Die Stadt ist riesig und lärmig, vieles scheint auf den ersten Blick chaotisch und unverständlich. An jeder Ecke prallt postmodern auf traditionell, steht ultra-cooles neben schäbigem. Der Kapitalismus hat zwar das Land überrannt, aber noch nicht alle Traditionen beseitigt: Da fährt bimmelnd der Altkartonsammler mit seinem rostigen Dreirad vor dem neusten Gucci-Prada-Shopping-Tempel vorbei, dort steht zwischen zwei Alleebäumen ein Tesla an der Strasse parkiert, darüber hängt nasse Wäsche zum Trocknen…

In den letzten Tagen habe ich einige Anläufe genommen, um meine Wahrnehmung von Shanghai (bzw. von China und den Chinesen allgemein) in die richtigen Worte zu fassen. Je nach momentaner Befindlichkeit wäre der Blog-Bericht recht unterschiedlich rausgekommen. Auch jetzt fällt es mir noch schwer, meine Erlebnisse zu beurteilen. Tatsache ist, dass dieses Land in den letzten 40 Jahren einen enormen Modernisierungsschub erfahren hat, der zwar den meisten Chinesen mehr Lebensqualität und manchen etwas Wohlstand gebracht hat, der das Land aber auch in einem nie dagewesenen Mass verändert hat. So eindrücklich dieser Wandel ist, an manchen Dingen zeigt sich aber auch, dass (nach unserem westlichen Verständnis) noch nicht alles reibungslos funktioniert. Dazu zwei augenzwinkernde Beispiele.

Am Bund

Beispiel 1: Metro Shanghai

Noch 1992 fuhr in Shanghai keine U-Bahn, heute hat die Stadt das zweitgrösste Metro-Netz der Welt. In einem Affenzahn wurde hier eine moderne U-Bahn gebaut und auch heute noch wird was Netz laufend erweitert. Jede Station hat eine grosszügige Halle und ist über mehrere Zugänge erreichbar.

Doch offenbar waren später neue Sicherheitsmassnahmen angeordnet worden, denn heute steht in jeder Station ein Gepackscanner und die ganze Halle ist mit Absperrungen verstellt, damit alle Leute an der Security vorbei müssen. Soweit, so ärgerlich. Nun ist es aber so, dass sich die Leute einen Dreck um die Sicherheitskontrollen kümmern! Kaum jemand legt seinen Rucksack oder seine Tasche aufs Band, und auch wir haben schon am dritten Tag begonnen, achtlos an den geflissen winkenden Kontrolleuren vorbeizugehen. Offenbar sind die armen Kerle nicht mit den nötigen Vollmachten ausgestattet, um ihre Kontrolle auch wirklich durchzusetzen. Die ganzen Stationen sind also für nichts verstellt, aber hunderttausende Personen machen deswegen täglich sinnlose Umwege, müssen Gedränge und Wartezeiten erdulden…

Ein Hochhaus als baumbewachsener Fels? Wieso auch nicht…

Beispiel 2: Geld wechseln

Wer in China etwas bezahlen muss, der macht das via Händy. Und zwar per WeChat, Alipay, Samsung Pay, Apple Pay oder mit einer der anderen MobilePay-Lösung, deren chinesischen Namen ich noch gar nicht entziffern konnte. Das ist toll, wenn man bedenkt, dass gleichzeitig in der Schweiz die Banken noch immer versuchen, Apple Pay zu verhindern, währenddem sie bei Twint an der Logo-Farbe rumwerkeln.

Da in China aber vielerorts nur lokale Kreditkarten akzeptiert werden, sind wir Touristen noch ganz altmodisch mit Bargeld unterwegs, und vor ein paar Tagen musste ich wieder mal welches wechseln. Also ging ich mit meinen 200 US-Dollar zur ICBC, Chinas grösster Bank. Nach einem ältere Ehepaar mit Bankbüechli (das gibt’s hier auch noch!) war ich an der Reihe. Und jetzt wurde es schwierig. Nicht, weil ich kein Chinesisch konnte, sondern weil die Schalterbeamtin am Computer den Ländercode für die Schweiz eingeben musste und weder «CH», «CHE» oder «SWI» akzeptiert wurden (auch ein verzweifeltes «CHF» half nicht). Schon nach kurzer Zeit waren bis zu fünf Bankbeamte in die Problemlösung involviert und tatsächlich knackte einer den geheimnisvollen Code: «SUI»! Als nächstes wurde meine Shanghaier Adresse und meine Telefonnummer benötigt. Hatte ich natürlich alles, aber oha, die Telefonnummer müsse von einem chinesischen Anschluss sein. Ich sagte, dass ich auf meiner Schweizer Nummer bestens erreichbar sei, doch das genügte nicht. Es ginge ja nicht darum, mich zu erreichen, erklärte mir eine nette Übersetzerin, worauf ich meinte, wir könnten doch einfach ihre Nummer angeben. Dieser Vorschlag war offenbar so ungehörig, dass nun an allen Schaltern die Computer abstürzten.

Die wartende Menge im Schalterraum war inzwischen auf eine beträchtliche Grösse angestiegen und entsprechend stieg die Nervosität bei den Bänklern. Und wer schon mal auf einer Bank gearbeitet hat, weiss wie lange es dauert, bis so ein Computer nach einem Neustart wieder einsatzbereit ist. Einzelne Beamte vertrieben sich die Zeit mit dem Zählen von Banknoten: Die Chinesen zählen Geld immer einhändig, das sieht ein wenig aus wie bei Michel Gammenthaler, wenn er einen Kartentrick zeigt. Mir aber ging langsam die Geduld aus und ich tat meine Absicht kund, das ganze Unterfangen abzubrechen. Einfach davonlaufen konnte ich ja nicht, weil mein Pass und die 200 Bucks noch auf der anderen Seite der dicken Glasscheibe lagen. Offenbar hatte ich damit aber die chinesische Ehre angestachelt, denn kaum war der Computer wieder aufnahmefähig, ging es plötzlich schnell: Name, Passnummer, «SUI», chinesische Adresse etc. wurden nochmals eingetippt, Noten wurden abgezählt, Belege wurden ausgedruckt. Nach über einer Stunde hatte ich meine Renminbi erhalten. Keine Ahnung, wessen Telefonnummer letztendlich herhalten musste…

中国了解长江 – China verstehen auf dem Yangtse

Nach der Drei-Schluchten-Talsperre fuhren wir mit unserem Kreuzfahrtschiff noch zwei Tage den Yangtse hoch, das heisst, eigentlich fuhren wir durch den mehr als 600km langen Stausee, der durch den neuen Damm entstanden war. Auf einem Bootsausflug in einen Seitenarm zeigten uns Einheimische, wie sie früher als Bootszieher gearbeitet hatten: Als der Fluss noch nicht gestaut war, gab es Stellen mit solch starken Stromschnellen, dass Schiffe aus eigener Kraft nicht mehr hochkamen. Also mussten sie von unzähligen armen Kerlen an Seilen flussaufwärts gezogen werden. Diese übten ihren kräftezehrenden Job in der Regel nackt aus, um dem Seil möglichst wenig Scheuermöglichkeiten zu bieten. Heute sind sie angekleidet und ziehen Touristenboote. Und erreichen das Pensionsalter.

Mit dem Ruderboot in einem Seitenarm des Yangtse

Am nächsten Tag machten wir einen Landausflug nach Fengdu, die auch «Stadt der Geister» genannt wird, weil hier viele Tempel stehen, die dazu dienen, mit den Geistern der Verstorbenen Kontakt aufzunehmen. In Fengdu gibt es eine Strasse, wo Zahnärzte und andere Mediziner auf dem Trottoir Zähne ziehen und «Bobos» heilen. Was uns Westlern unvorstellbar rückständig scheint, ist hier aber ein grosser Fortschritt: noch vor zehn, zwanzig Jahren genoss die Landbevölkerung in dieser Region nicht mal diesen einfachen Grad an medizinischer Versorgung.

Frischmarkt in Fengdu

In Fengdu besuchten wir einen Markt und einen Kindergarten. Bei letzterem hielten wir uns allerdings zurück, da wir es moralisch doch ein wenig fragwürdig fanden, wenn eine Horde westlicher Pensionäre mit «Jöö»-Geschrei auf eine Gruppe Vierjährige losgeht und ungefragt Fotos von den herzigen Chineslis macht. Ein Kindergarten ist ja schliesslich kein Zoo, selbst wenn es sich um eine Vorzeige-Einrichtung handelt. Als die Reiseleiterin erklärte, dass dies ein «privater» Kindergarten sei, löste das in der Reisegruppe umgehend die Frage aus, ob denn das kommunistische China nicht allen Kindern die selbe Grundausbildung zur Verfügung stelle. In ihrer ausweichenden Antwort faselte die Reiseleiterin etwas von unterschiedlichen Klassengrössen. Dieses nicht-wirklich-Beantworten von (system)kritischen Fragen hatten wir auch schon bei anderen Reiseleitern beobachtet: Entweder waren sie in ihrer Ausbildung darauf trainiert worden, oder sie trauten sich nicht, offen Stellung zu beziehen.

Der Metzger verkauft direkt an der Strasse, natürlich auch Sauschnörrli und Hühnerfüsse

Die Marktgasse ist auch ein Wohnzimmer: Mahjongg-Spieler

In Fengdu sind die Frauen in der Überzahl, denn die Männer verdingen sich als Wanderarbeiter an der Ostküste

Zurück auf dem Schiff hatten wir dann genügend Zeit, um all unsere Eindrücke etwas einzuordnen. Aber das Land hat so viele verschiedene Facetten, dass es mit unserer «westlichen Brille» schlicht unmöglich scheint, alles korrekt zu interpretieren oder sogar zu verstehen.

In der Wu-Schlucht scheinen die Schiffe ganz klein


China hatte im 19. und 20. Jahrhundert seine grösste Krise erlebt, welche schliesslich zum Ende des Kaiserreichs geführt hatte. Nebst massiven Aufständen im Land selber war es ständig vom Ausland angegriffen worden: China hatte die beiden Opium-Kriege gegen Grossbritannien verloren, sowie die beiden sino-japanischen Kriege gegen Japan und den Boxeraufstand gegen eine Gruppe westlicher Staaten. Weiter gab es auch in den beiden Weltkriegen eine grosse Opferzahl zu beklagen. So gesehen war Mao Zedong nach langer Zeit der erste Führer, der den Chinesen eine gewisse Unabhängigkeit vom Ausland brachte. Zudem waren seine Pläne in den ersten Jahren seiner Herrschaft tatsächlich erfolgreich. Nachdem sich das Land 1978 nach aussen geöffnet hatte, geht es heute vielen, wenn nicht sogar allen Chinesen viel besser als früher. Genau deshalb verehren auch heute noch viele Chinesen ihren «Chairman Mao» und sehen in der Kommunistischen Partei eine «gute» Landesführung.

Besuch auf einem umgesiedelten Bauernhof

Natürlich war das jetzt eine extrem verkürzte Darstellung der chinesischen Geschichte, vor allem machte ich einen «grossen Sprung» über 20 unschöne Jahre. Doch weil im damals sehr ländlich geprägten China die Informationsorgane staatlich kontrolliert und beeinflusst wurden, war das wahre Ausmass vom «Grossen Sprung nach vorn» und von der Kulturrevolution wohl tatsächlich kaum breiten Kreisen bekannt. Auch heute noch bestimmt der Staat, welche Informationen er seinen Bürgern zukommen lässt: Vom ersten Schulbuch über Zeitung und Fernsehen bis hin zum Internet wird dem Volk eine gefilterte und korrigierte Welt vermittelt. Das heisst jetzt nicht, dass die Chinesen Ungerechtigkeiten nicht bemerken würden, doch scheint der Staat wirklich jeden Protest im Keim zu unterdrücken, und aus Angst vor Repressionen arrangieren sich halt viele, um nicht aufzufallen oder anzuecken.

Frühmorgens in Chongqing, an der Skyline wird noch gearbeitet

Das Ausmass der staatlichen Einmischung (inkl. Justizsystem) brachte einer unserer kritischen Gesprächspartner brilliant auf den Punkt:

In China ist es, wie wenn Du Fussball spielst, und die gegnerische Mannschaft ist gleichzeitig auch der Schiedsrichter. Wie willst Du da je ein Spiel gewinnen?

該死的河 – Der verdammte Fluss

In Yichang begann unsere Flusskreuzfahrt auf dem Jangtse. Die nächsten drei Tage würden wir auf Chinas grösstem Fluss rund 600km aufwärts fahren und dabei die berühmten Schluchten Xiling, Wu und Qutang durchqueren. Jene drei Schluchten, die dem grössten Ingenieurbauwerk Chinas den Namen gegeben hatten. Die Talsperre liegt nur wenige Kilometer flussaufwärts von Yichang und schon am Mittag hatte unser Schiff hier die Warteposition erreicht. Wir Passagiere gingen an Land, um die Staumauer und die umliegenden Anlagen zu besichtigen.

Der lokale Reiseleiter begrüsste uns mit einem routinierten: «I’m your dam guide», dann fuhren wir mit dem Bus zum Three-Gorges-Garden (früher der Standort einer Betonmischanlage), schauten die schönen Blumenbeete an, die alle paar Wochen neu bepflanzt würden, bestaunten die riesige Staumauer, der dieser Gegend so viel Gutes gebracht habe (und immer noch bringe), guckten Baumaschinen und Transistoren an, mit deren Verkauf die westlichen Firmen hier ein so gutes Geschäft mit den Chinesen gemacht hätten und so weiter. Kurzum: Es wurde uns eine schöne, heile Welt präsentiert.

Unser Tourguide macht den Job seit 19 Jahren, also seit er sein Heimatdorf verlassen musste. Auf der Karte zeigte er uns, wo es gelegen hatte, denn heute ist es überflutet, genauso wie die Felder, wo sein Vater bis zur Umsiedelung Orangen und Mandarinen angebaut hatte. Aber, erzählte er uns strahlend, die Dorfbewohner seien alle in eine neu gebaute Stadt bei der Talsperre umgesiedelt worden, hier hätten sie jetzt fliessendes Wasser in der Wohnung und «five star toilets». Der Staat habe sogar dafür gesorgt, dass die Leute gemeinsam umgesiedelt wurden und so immer noch in gleicher Nachbarschaft leben könnten. Das sei gerade für die Generation seiner Eltern sehr wichtig gewesen, sagte er. Sein Vater hätte jetzt übrigens einen kleinen Laden, wo er (guess what!) Orangen und Mandarinen verkaufe.

Der Guide kannte sich auch mit Zahlen aus: 700 Megawatt Leistung habe eine Turbine, 34 Stück davon bilden das Kraftwerk, welches bei Inbetriebnahme fast 10 Prozent des chinesischen Stromverbrauchs abgedeckt habe. Infolge des gestiegenen Verbrauchs seien es heute nur noch knapp 2 Prozent, aber China werde bis 2020 noch 20 weitere solche Dämme bauen und dann 30 Prozent des Strombedarfs mit Wasserkraft decken. Beim Bau habe es zudem weniger Tote gegeben als beim Bau des Hoover Dam, die Stromproduktion sei höher als beim Assuan-Staudamm, das Wasser falle tiefer als bei den Victoria Falls, die Mauer sei «dicker als», «breiter als» und so weiter. So langsam hatte ich von dieser Propaganda genug. Aber man sah, dass der Mann wirklich glaubte, was er uns erzählte. Logisch, er wiederholt es seit 19 Jahren täglich. 1.3 Millionen Umgesiedelte sind jetzt glückliche Menschen, weil sie vom Staat ein Five-Star-Klo bekommen haben… Aber vielleicht will er auch nichts anderes glauben, weil er die Wahrheit nicht ertragen könnte.

Auf dem Schiff hingegen sprach ein anderer Chinese relativ offen darüber, dass in Wirklichkeit wohl eher gegen 2 Millionen Menschen umgesiedelt worden waren, dass das mit dem Dammbau angestrebte Hauptziel (Schutz vor Überschwemmungen) nicht erreicht worden sei, und dass die Nebenwirkungen des Baus noch nicht absehbar seien. Man wisse aber schon heute, dass das immense Gewicht des neuen Stausees einen Einfluss auf die Plattentektonik habe und damit möglicherweise das verheerende Erdbeben in Sichuan ausgelöst haben könnte. Dieses ereignete sich nämlich 2008 kurz nachdem der Stausee erstmals vollständig aufgefüllt war, in einer Gegend, wo zuvor nur selten Erdbeben aufgetreten waren.

Lässt man die sozialen und politischen Aspekte beiseite, ist die Drei-Schluchten-Talsperre ein sehr imposantes Bauwerk. Von weitem sah es nur deshalb nicht ganz so spektakulär aus, weil man die Grösse von Talsperre und Schleusensystem noch gar nicht richtig einschätzen konnte. Erst als unser Schiff in die erste Schleuse einfuhr, sahen wir, wie gross das alles wirklich war. Jedes der fünf Becken ist 280m lang und der Wasserspiegel wird bei jeder Schleusenstufe um 22m angehoben. So überwanden wir in rund 3 Stunden 110m Höhe.

Beim Bau des «Three Gorges» waren damals rund 8’800 Millionen Kubikmeter Fels und Erde abgetragen worden, und für die Erstellung der Staumauer war der ganze Fluss kurzfristig umgeleitet worden. Die Erstellung der Drei-Schluchten-Talsperre war zweifellos eine ingenieurtechnische Meisterleistung und ein Mammut-Projekt. Wer, wenn nicht die Chinesen hätten so ein Riesen-Bauwerk erstellen können, schliesslich reicht ihre Erfahrung mit solchen Grossprojekten Jahrhunderte zurück (siehe Terrakotta-Armee und Chinesische Mauer)…