Kurz nach unserer Abfahrt in Qiautou begann sich die Landschaft zu verändern: Die Hänge waren nicht mehr terrassiert und die Vegetation wurde karger. Kein Wunder, schliesslich führte die Strasse ständig bergaufwärts und bald waren wir auf 3’300müM angelangt. Trotz der grossen Höhe hatte es immer noch Wälder und am Horizont erhoben sich majestätische Berge. Auf den Wiesen weideten Pferde, Yaks und Schweine. Die verstreuten Häuser hatten nun einen ganz anderen Baustil: Sie waren breit, mit massiven, nach unten dicker werdenden Steinmauern und mit dicken Holzpfeilern, welche die mit Natursteinplatten bedeckten Giebeldächer trugen. Vielerorts flatterten lange Reihen von farbigen Fähnchen im Wind. Ohne Zweifel waren wir nun in Tibet angelangt.
Bald öffnete sich das Tal und in der breiten Hochebene vor uns lag Shangri-La. Ursprünglich hatte die Stadt Zhongdian geheissen, doch um mehr Touristen anzuziehen, war sie 2001 umbenannt worden, nach der paradiesischen Stadt aus dem Buch «Lost Horizon» von James Hilton.
Unter dem Titel «Go West» hatte die chinesische Regierung vor ein paar Jahren die bessere Erschliessung von Chinas Westen beschlossen (sicher auch mit der Absicht, so den Einfluss auf Tibet zu erhöhen). Diese Modernisierung ist in Shangri-La zur Zeit in vollem Gang: In der Stadt, die erst 1970 erstmals von einem Auto erreicht wurde, wird zur Zeit eine 8-spurige Umfahrungsstrasse durch die Ebene gebaut. Gleichzeitig werden die beiden Innenstadt-Ringe erneuert, entsprechend gross ist das Verkehrschaos. Mangels alternativen Routen werden die Abschrankungen von den Fahrzeugen einfach ignoriert und so holpern die Autos zwischen Baggern, Lastwagen und Löchern mitten durch die Baustellen. Erst im alten Stadtzentrum entflieht man diesem Chaos. Doch auch hier ist vieles unfertig: Im Januar 2014 waren zwei Drittel der Altstadt einem verheerenden Grossbrand zum Opfer gefallen. Zwar ist inzwischen das meiste wieder aufgebaut worden, aber die Arbeiten sind noch nicht abgeschlossen. Zum Glück wurden die Holzhäuser wieder im gleichen Stil erstellt, denn die tibetischen Häuserfronten mit ihren unzähligen feinen Holzschnitzereien sind eindrücklich schön. Durch den Brand und den anschliessenden Einbruch beim Tourismus hatten aber viele Familien ihre Lebensgrundlage verloren und daraufhin die Stadt verlassen. So stehen heute viele Gebäude leer, Läden sind geschlossen oder haben Schlussverkauf. Eine ziemlich ironische Situation: Einerseits wird massiv in die Infrastruktur von Shangri-La investiert, andererseits wandern die Bewohner ab. Böse, wer dahinter eine Strategie der Regierung zur «Han-isierung» der Stadt vermutet.
In Shangri-La erhielten wir einen guten Einblick in die tibetische Kultur. Wir assen einen feinen Hot Pot mit viel Yak-Fleisch, probierten den hier berühmten Yak-Butter-Tee (gruuusig!) und am zweiten Abend kriegten wir ein «tibetisches» Yak-Steak, das aber ausschliesslich für die westlichen Touristen zubereitet wird. Nach zwei Monaten mit Stäbchen essen war es richtig ungewohnt, mit dem Messer ein grosses Stück Fleisch zerteilen zu müssen. Aber fein war’s! Und zu trinken gab’s natürlich Shangri-La Beer, welches hier in der Stadt in der ersten Kleinbrauerei Chinas hergestellt wird. Gegründet wurde die Brauerei 2009 von Songtsen Gyalzur, einem in der Schweiz aufgewachsenen Tibeter, der nach Shangri-La ausgewandert war. Für den Aufbau der Brauerei holte er Schweizer Hilfe und daraus entwickelte sich schliesslich eine Städtepartnerschaft: Deshalb prangt nun auf jeder «Black Yak»-, «Tibetan Pale Ale»- oder «Super Nova»-Flasche dezent ein «Arosa»-Logo.
Neben der Altstadt und den Tempeln auf dem Schildkrötenhügel besichtigten wir auch das 300 Jahre alte Kloster Ganden Sumtseling Gompa. Es ist das grösste tibetisch-buddhistische Kloster in Yunnan und thront majestätisch auf einem kleinen Hügel am Rand der Stadt. Auf der langen Treppe zum Kloster waren wir ganz schön ins Schnaufen gekommen: die dünne Höhenluft hatte sich rasch bemerkbar gemacht. Unter kundiger Anleitung unseres Guide besichtigten wir dann den Haupttempel und die verschiedenen Gebets- bzw. Lesehallen. Buddhisten spenden ihren verschiedenen Göttern Geld und Naturalspenden, und zwar auf für uns ungewohnte Art: Vor jeder Statue liegen Früchte und mit Reis gefüllte Schalen, stehen thailändische Red-Bull-Büchsen und Schnapsflaschen. Überall liegen Geldscheine herum, sogar in den Ritzen an den Wänden stecken Münzen.
Am Nachmittag machten wir dann noch eine «kurze» Velotour an den nahen Napa-See. Dieser liegt 10km neben der Stadt in einer weiten Ebene, wo Pferde grasen, Tagesausflügler sich vor ihren Jurten fläzen und Hochzeitspaare für Fotos posieren. Der Ausflug wäre ganz idyllisch gewesen, hätten wir auf dem Hinweg nicht ein Paradebeispiel vom chinesischen «das Gesicht wahren» erlebt. Unser Guide hatte sich nämlich verfahren, und anstatt das einfach zuzugeben, versprach er uns alle paar Minuten, dass wir «jetzt dann gleich» am Ziel seien. Nach fast zwei Stunden Irrfahrt durch die Baustellen der Stadt waren wir zwar auf einer schönen grasigen Ebene angekommen, aber da war weit und breit kein See. Frank erklärte uns im vollen Ernst, dass dieser verschwunden sei; abgelaufen, ausgetrocknet. Vor zwei Jahren sei genau hier noch ein See gewesen. Aus Anstand (und weil ich aufgrund meines Gemütszustands keine freundlichen Worte gefunden hätte) unterliess ich es, ihn auf die leichte Geländeneigung und die damit verbundene Unmöglichkeit seiner Aussage hinzuweisen. Nun ja, eine halbe Stunde später hatten wir den See dann gefunden: Er lag an der tiefsten Stelle der Ebene…